Die doppelte Ludmilla
Rund 15 Prozent der ukrainischen Schutzsuchenden in der Schweiz sind erwerbstätig. Das ist deutlich mehr als bei anderen Flüchtlingsgruppen. Eine davon ist Ludmilla.
Rund 15 Prozent der ukrainischen Schutzsuchenden in der Schweiz sind erwerbstätig. Das ist deutlich mehr als bei anderen Flüchtlingsgruppen. Eine davon ist Ludmilla.
Zusammen mit ihrem zwölf Jahre alten Sohn floh Ludmilla im April letzten Jahres in die Schweiz. Sie liess sich im Bundesasylzentrum Bern registrieren und erhielt den Schutzstatus S. Doch ihr war von Beginn weg klar, dass sie in der Schweiz arbeiten und nicht von anderen abhängig sein wollte. «Auf der Ukraine-Job-Plattform von Gastro Bern wurde ich fündig», strahlt die Kiewerin. Ludmilla arbeitet seit Juni letzten Jahres – wie könnte es anders sein – im Restaurant Ludmilla im Berner Breitenrain-Quartier.
Simon Burkhalter, Geschäftsführer des Restaurants Ludmilla, war auch in Not, als er vor Jahresfrist die Jobbörse von Gastro Bern konsultierte: «Angesichts des Fachkräftemangels war die Suche sehr aufwändig und zuweilen gar frustrierend. Dank der Job-Plattform ging die Anstellung von Ludmilla aber innert drei bis vier Tagen über die Bühne – für uns ein Segen.»
Angesprochen auf seine Serviceangestellte Ludmilla, gerät der junge Gastronom ins Schwärmen: «Sie macht es sehr gut, die Gäste schätzen es, wie offen sie trotz der zeitweiligen Verständigungsprobleme auf sie zugeht.»
Ludmilla besucht regelmässig den Deutschunterricht und macht Fortschritte. «Einen Dreier Roten verstehe ich sehr gut», schmunzelt sie und ergänzt, dass sie sich im Kontakt mit den Kunden halt mit einem Mix aus Englisch und Deutsch zu helfen versuche. Überhaupt, die Gäste, generell die Schweizerinnen und Schweizer, seien sehr freundlich, würden ihr immer helfen und grüssen. Zur Bestätigung kommt ein kehliges und schon fast akzentfreies «Grüessech» über Ludmillas Lippen.
Ob sie dereinst in die Ukraine zurückkehrt, kann Ludmilla noch nicht sagen. Die zwei Besuche, die sie letztes Jahr in ihrer Heimat machte, sprachen eher dagegen. «Es war sehr traurig, viele Gebäude sind zerstört, Freunde sind gestorben – im Moment fehlt die Perspektive», erzählt sie nachdenklich. Sie ist deshalb dankbar, dass in Kürze ihre Mutter ebenfalls in die Schweiz kommen wird, um hier Zuflucht zu suchen. Die Mutter sei ein Stück Heimat und könne Ludmilla auch bei der Betreuung ihres Sohnes unterstützen. Er ist meistens alleine zu Hause, wenn Ludmilla im «Ludmilla» ihrem 40-Prozent-Pensum nachgeht.
Ihr Chef stockt dieses Pensum bald noch um 5 Prozent auf. «Wir sind ein sozialer Arbeitgeber und gehen, wenn immer möglich, auf die Wünsche unserer Mitarbeitenden ein. Bei uns erhält jede und jeder einen Arbeitsvertrag, sogar bei einem 10-Prozent-Pensum. Stundenlöhne kennen wir nicht», ergänzt Simon Burkhalter. Und Menschen aus anderen Kulturkreisen seien ohnehin in jeder Hinsicht eine Bereicherung für den Betrieb. In den drei von Burkhalter betriebenen Restaurants verfügen denn auch sieben seiner rund 30 Angestellten über einen Migrationshintergrund.
Im Sommer 2022 beauftragte das SEM die Berner Fachhochschule (BFH) damit, arbeitsmarktrelevante Daten zu Personen mit Schutzstatus S zu erheben. Die Online-Befragung wurde während vier Wochen im Zeitraum September/Oktober bei Schutzsuchenden im Alter von 16 bis 59 Jahren durchgeführt. Dafür wurden 8000 Personen angeschrieben. Die rund 30 Fragen waren in die vier Themenblöcke «Aktuelle berufliche Situation», «Sprachkennnisse und Ausbildung», «Mobilität und Zukunftsperspektiven» sowie «Persönliche und gesundheitliche Situation» aufgeteilt. Die Auswertung beruht auf den Antworten von rund 2000 Personen.
40 Prozent haben gute Englischkenntnisse, 70 Prozent eine tertiäre Ausbildung
Laut eigener Einschätzung können rund 40 Prozent der Schutzsuchenden in Englisch «das meiste verstehen und sich gut mündlich ausdrücken». Dabei verfügen die unter 40-Jährigen über deutlich bessere Sprachkenntnisse als die über 40-Jährigen. Die Schutzsuchenden sind ausserdem gut ausgebildet. 94,5 Prozent gaben an, über eine nachobligatorische Ausbildung zu verfügen, 70 Prozent haben einen tertiären Abschluss. Die am häufigsten vertretenen Berufsfelder sind «Wirtschaft, Verwaltung und Recht» und «Ingenieurwesen, verarbeitendes Gewerbe und Bau». Damit bestätigt die Befragung die Erhebung des SEM bei Schutzsuchenden, die sich über die Online-Plattform RegisterMe anmelden.
Die meisten Schutzsuchenden würden gerne mehr arbeiten
Die Umfrage der BFH gibt einen vertieften Einblick in die berufliche Situation der Schutzsuchenden. So gaben 36 Prozent der Befragten an, auf Stellensuche zu sein und weitere 36 Prozent zeigten sich an einer Arbeit interessiert. 27 Prozent nahmen an einem Beschäftigungsprogramm oder einer Ausbildung teil und 15 Prozent gaben an, in der Schweiz erwerbstätig zu sein. Drei Viertel der beschäftigten befragten Personen würden gerne mehr arbeiten. Hier waren Mehrfachnennungen möglich.